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Die faire und harmonische Gesellschaft
Die Systemdifferenzen
In der letzten Talkrunde von "Hart aber fair" am 5.11.2012 wurde über China diskutiert, wobei die europäische Expertin für China mitteilte, dass dort nicht der Begriff "Menschenrechte" benutzt werde, sondern der Begriff der fairen, harmonische Gesellschaft. Ich meine, ein guter Begriff, auf den sich die wirtschaftlich unterschiedlich strukturierten Gesellschaften des Westens und Chinas gut einigen könnten, wenn der Westen das wollte – was ich bezweifle. Der Westen wirft China vor, die Menschenrechte zu missachten, und der Osten (nicht nur China, sondern auch die traditionelle Denkweise des Ostens) wirft dem Westen vor, eine Konkurrenzgesellschaft zu sein, die die Arbeitskraft der Individuen ausbeutet ("Ellenbogengesellschaft"). In der Praxis sieht es selbstverständlich auf beiden Seiten anders aus als in der Theorie: die Führungsmacht des Westens praktiziert die Todesstrafe und foltert Gefangene, die des Terrorismus verdächtigt werden (es reicht also ein Verdacht, um einen Menschen mit dem "Waterboarding" zu quälen), handelt also menschenrechtswidrig; in China gilt - allgemein gesagt - das Individuum wenig und die Gesellschaft alles, was an den deutschen Nazifaschismus erinnert und auch nicht nach Harmonie klingt. Mir steht es nicht zu, fremde Gesellschaften, über die ich nur durch unsere Medien informiert werde, zu kritisieren, daher beschäftige ich mich mit der Frage, ob ein faires Miteinander und Harmonie Grundsätze wären, die ich bezogen auf die westliche Gesellschaft begrüßen kann.
Miteinander statt gegeneinander
Nicht nur ich in meinen Veröffentlichungen, sondern auch viele andere Autoren (unter vielen anderen Gerald Hüther – Connectedness; Werner Siefer – Wir; Stephan Marks – Menschenwürde) beklagen sich über die Rücksichtslosigkeit unserer Gesellschaft den Individuen gegenüber und fordern ein Umdenken vom Gegeneinander zum Miteinander.
Die Ausbeutung der Menschen im Arbeitsprozess
Die kapitalistische Wirtschaftsform, wie sie sich im Rahmen der industriellen Revolution entwickelt hat, wurde ja bereits in ihrer Entstehung philosophisch von Karl Marx scharf verurteilt, weil sie den Menschen von seinem Menschsein dadurch entfremde, dass die Produktionsmittel im Besitz einiger Weniger seien, die sich den erarbeiteten Mehrwert privat aneigneten, was zur Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft führe. Die Philosophie lebender Systeme kritisiert an diesem Konzept u.a., dass ihrer Ansicht nach nicht die Arbeiter ausgebeutet wurden und werden, sondern die Wissenschaftler, Erfinder und Ingenieure. Die Erfindung und Entwicklung von Maschinen, die die Produktion immer mehr beschleunigen, so dass in gleicher Zeiteinheit immer mehr und immer billiger produziert werden kann, und die Ersetzung der Muskelkraft durch Fremdenergie (am Beginn Kohle, kurz darauf bereits elektrischer Strom, inzwischen Atomkraft), führen zur permanenten Steigerung der Produktion und Verringerung der Kosten.
Die "Entfremdung" als natürliche Entwicklung des Menschen
Die sogenannte "Selbstentfremdung" wird von mir als naturgesetzliche Fortsetzung der Evolution angesehen, weil in der technischen Evolution der menschliche Erfindergeist (eine Formulierung Albert Einsteins) dazu führt, dass nicht mehr biologische innere Organe durch langfristige evolutionärer Veränderungen vervollkommnet werden, sondern körperexterne Organe die lebenden menschlichen Organe erweitern. Das Fahrrad und das Auto sind Erweiterungen der Beine, die die Fortbewegungsgeschwindigkeit der Menschen erhöhen, das Flugzeug verleiht dem Menschen Flügel.
Überproduktion und Selektion als Mittel von Evolution und Zivilisation
Die Zivilisation oder die Evolution der Technik stellt also die Fortsetzung eines naturgesetzlichen Geschehens dar, das aber auch mit den gleichen Mitteln zum Fortschritt führt, nämlich mit Überproduktion (hier von Waren) und Selektion. Die Natur selektiert allerdings ganz brutal dadurch, dass der Schwächere vom Stärkeren gefressen wird oder der weniger intelligente verhungert, weil ihm die intelligenteren die Nahrung wegfressen oder seine Beutetiere schlauer sind. Selektion bedeutet in der Natur massenhaftes Sterben (vermutlich werden 99% der Jungtiere von Fröschen, die Kaulquappen, von Fischen aufgefressen, um nur 1 Beispiel zu nennen). Im Bereich menschlicher Gesellschaften geht es im Vergleich dazu schon jetzt bedeutend friedlicher zu, obgleich der Mechanismus der Selektion im Prinzip der gleiche ist.
Selektion durch Krieg und Konkurrenz um den Arbeitsplatz
Auf der Ebene der Gesellschaften (=lebende Systeme höherer Ordnung) sind es insbesondere die Kriege, die ein Phänomen der Selektion sind und im 20. Jahrhundert zu Millionenopfern an Individuen geführt haben, auf der Ebene der Individuen (=Lebendes System Mensch) ist es der Kampf um den Arbeitsplatz, besser gesagt um das Geld, das dort als Belohnung dafür bezahlt wird, dass das Individuum etwas zur Verbesserung des Allgemeinwohls tut. Diese Konkurrenz ersetzt die biologische Selektion, wobei die gleichen Eigenschaften wie im Tierreich positiv ausgelesen werden, wie körperliche Stärke, Durchhaltevermögen, Zuverlässigkeit und Schnelligkeit oder höherer Intelligenz, bessere Ausbildung und perfektere Fertigkeiten. Diese vom westlichen Wirtschaftssystem aus der Natur übernommenen Selektionsprinzipien fallen nun die benachteiligten Individuen innerhalb der westlichen Gesellschaften und die technisch unterentwickelten Gesellschaften der ehemals "dritten" Welt zum Opfer.
Die Wahrnehmungslücke für Leid durch die Globalisierung – die Abwehr des Schuldgefühls
Die Globalisierung der Wirtschaft hat nun unter dem Strich den Effekt, dass der Wohlstand in den technisch weiter entwickelten Ländern allgemein dadurch wächst und den Arbeitslosen in diesen Ländern offiziell ein menschenwürdiges Dasein garantiert (worüber noch zu reden wäre) – natürlich auf Kosten der steigenden Armut in den Ländern dieser ehemals "dritten" Welt. Die im Frühkapitalismus bemängelte Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft ist dem Blick der Bürger der westlichen Industriestatten dadurch verwehrt, dass die Produktionsstätten in Billiglohnländer verlagert werden und die Ausbeutung dort – und nicht im eigenen Land – stattfindet. Was ich nicht persönlich sehe oder mit meinen Sinnen wahrnehmen kann, wie zum Beispiel auch das Leid der Masttiere, die als Fleischproduzenten ausgebeutet werden, das berührt mich emotional nicht. Die emotionale Berührung erzeugt nämlich ein natürliches schlechtes Gewissen, ein Schuldgefühl. Die Zivilisationstheorie der Philosophie lebender Systeme sieht übrigens das Schuldgefühl, das das Clanmitglied der barbarischen Urgesellschaft bei der Ermordung von Individuen konkurrierender Clans hatte als Ursache der Zivilisation an, die mit Pflanzenzucht und Tierzucht ihren Ursprung nahm und Religion zur Beschwichtigung des Schuldgefühle erfand. Nach dieser kurzen Ursachenanalyse für Konkurrenz zurück zum Thema faire, harmonische Gesellschaft.
Männliches und weibliches Gesellschaftsprinzip
Das Konkurrenzprinzip, das seine Herkunft in der Selektion der natürlichen Evolution hat, wird in der westlichen Gesellschaft besonders vom männlichen Geschlecht repräsentiert. Schon in der Urgesellschaft war es der Mann, der sich als Jäger von Tieren und als Krieger (Mörder konkurrierender Clans) betätigte. Diesem Konkurrenzprinzip steht jedoch das weibliche Prinzip des Miteinanders gegenüber, das vermutlich seine biologischen Wurzeln in der Säuglingspflege hat. Diese beiden gesellschaftlichen Umgangsformen werden über unterschiedliche Hormonsysteme vermittelt, die bei unterschiedlichen Anlässen ausgeschüttet werden. Männer wetteifern, beispielsweise bei der Partnersuche, was durch die Hormone Testosteron und Adrenalin vermittelt wird, der (eher weibliche) Altruismus wird genährt durch die Belohnung, die der Gebende vom Nehmenden erfährt. Hier wird auch nicht Geld als modernes Vehikel benutzt, um den, der etwas für den anderen, für den Mitmenschen und für die Gesellschaft tut (also arbeitet), zu belohnen, sonders es sind Dankbarkeit, ein lieber Blick, der Ausdruck von Freude beim Beschenkten (in der Ursituation des Säuglings), die Glücksgefühl beim Geber auslösen. Dieses Glücksgefühl, das das Individuum als Feedback oder positive Rückkopplung erhält, ist dem Geber wichtiger als Geld (Arbeitslohn).
Miteinander in kleineren Einheiten, regional
Dieses weibliche Prinzip des Miteinanders funktioniert nun allerdings nur in überschaubaren Gruppen und nicht über Ozeane hinweg. Es scheint mir auch so, dass das männliche Konkurrenzprinzip der westlichen Industriegesellschaft durch das weibliche Prinzip der Zusammenarbeit, der Kooperation und des Miteinanders ersetzt werden sollte, aber dies nicht nur in der westlichen Industriegesellschaft, sondern auch in den technisch nicht so weit entwickelten Ländern und Regionen.
Die Gleichberechtigung der Geschlechter
In den chinesischen Fabriken und den Produktionsstätten der Billiglohnländer sollten ebenfalls humane Zustände mit angemessener und gleicher Bezahlung für beide Geschlechter eingeführt werden und in den Ländern mit islamischer Religion sollte das Miteinander von Mann und Frau ebenfalls auf gleicher Ebene stattfinden. Hier kommt zu den wirtschaftlichen Ausbeutungsverhältnissen noch hinzu, dass Frauen verschleiert und zu Hause eingesperrt werden, weil die Männer ihren Sexualtreib anscheinend nicht steuern können.
Die Übervermehrung durch ungesteuerten Geschlechtsverkehr
Es verwirklicht sich nicht nur hier ein Naturprinzip, das der Mensch lediglich religiös zu begründen sucht: je schwächer eine Tierart ist, desto mehr Nachwuchs produziert sie, um das Überleben zu sichern. Dieses Naturprinzip gilt auch im Menschenreich: je schwächer ein Land wirtschaftlich ist und je höher die Säuglingssterblichkeit ist, desto mehr Kinder produziert es – trotz Empfängnis verhütender Medikamente und anderer Möglichkeit zu Geburtenreduzierung, angefangen bei der sexuellen Enthaltsamkeit oder der Selbstbefriedigung. Für die Zukunft der Menschheit ist es nicht nur wichtig, dass das natürliche Selektionsprinzip der Konkurrenz überwunden wird, sondern dass auch die Überproduktion von Nachkommen eingestellt wird.
Die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Wachstum und der Umweltverschmutzung
Die Übervölkerung der Erde mit Menschen ist ein unschlagbares Argument dafür, dass die Industrieproduktion - nicht nur die industrielle Produktion von Nahrung, sondern auch die Produktion von Waren, also von körperexternen Effektoren (der von der Philosophie lebender Systeme benutzte Oberbegriff für Kleidung, Autos und andere technische Produkte, die dem Individuum das Leben erleichtern) – ständig erhöht werden müsse. Das Wachstum der Wirtschaft und der Bevölkerung ist den Gesellschaften wichtiger als das Wachstum der Individuen.
Die Selbstentfaltung und Eigentumsvermehrung
Das Wachstum der Individuen ist nach Abschluss des körperlichen Größenwachstums vor allem ihr geistiges Wachstum und die Vervollkommnung angeborener Fertigkeiten und erlernbarer Fähigkeiten. Diese Fortsetzung der Vergrößerung des Individuums bezeichnet die Philosophie lebender Systeme als Selbstentfaltung, umgangssprachlich wird auch von Selbstverwirklichung gesprochen. Dieses geistige Wachstum ist für die Umwelt des Menschen unschädlich und daher auch "nachhaltig". Aber das Individuum vergrößert sich auch durch Aneignung von Eigentum, also von Kleidung und sonstigen körperexternen Organen. Die Individuen - oder die Systeme Mensch, wie ich sage – sollten allerdings in Zukunft darauf verzichten, körperlich in diesem Sinn zu wachsen. Dieses körperliche Wachstum, das sich nach Abschluss des biologischen Größenwachstums als Aneignung von immer mehr Eigentum manifestiert, hat nämlich auch immer mehr Energieverbrauch zur Folge. Und dies führt zur weiteren Ausbeutung der Erde und ihrer Ressourcen.
Die harmonische Gesellschaft
Das Ideal einer harmonischen Gesellschaft sollte daher nach Ansicht der Philosophie lebender Systeme erweitert werden um das Prinzip des harmonischen Zusammenlebens der Menschheit mit der Natur. Und dazu gehört die Begrenzung des Energieverbrauchs des Individuums genauso wie die Begrenzung des Energieverbrauchs der Gesellschaften. Es müsste also in Zukunft nicht nur das männliche Prinzip des Gegeneinanders durch das weibliche Miteinander ersetzt werden, sondern die Gesellschaften sollten auf Größenwachstum verzichten, also die Geburtenrate jeweils der Sterberate anpassen, und die Individuen sollten ihre materiellen Wünsche nicht ständig vergrößern, sondern sich stattdessen geistig entfalten.
Dann ließe sich eine harmonische Gesellschaft verwirklichen.
Rudi Zimmerman Berlin, den 6.11.2012
Literatur
Hüther, Gerald, Spannbauer, Christa (Herausgeber): Connectedness. Warum wir ein neues Weltbild brauchen. 2012. Verlag Hans Huber. Bern. ISBN 9783456850832 Marks, Stephan: Die Würde des Menschen oder: Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft. 2010. Gütersloher Verlagshaus. 2010. ISBN 9783579067551 Siefer, Werner: Wir und was uns zu Menschen macht. 2010. Campus Verlag. Frankfurt. New York. ISBN 9783593392516 Zimmerman, Rudi: Das System Mensch. Konstruktion und Kybernetik des neuen ganzen Menschen. 2004. ISBN 9783000127847 Zimmerman, Rudi: Zivilisation als Fortsetzung der Evolution. 2008 ISBN 9783000247019
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