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Horst-Eberhard Richter: Die Krise der Männlichkeit
eine kritische Würdigung
HE Richter ist menschliches Vorbild im wahrsten Sinne des Wortes, weil er als Mensch lebt, nicht als Mann, sondern als Mensch, der seinen weiblichen "Schatten" in seine männliche "Persona" integriert hat, wie man es mit CG Jungs Begriffen ausdrücken kann. Er lebt den Gegenentwurf zum typischen "Macho", dem Mann, der durch Kraft und die Überlegenheit materieller Stärke der Frau imponieren muss. Ein derartiges, durch genetisch gespeicherte Handlungsprogramme gesteuertes Balzverhalten – selbst in sublimierter Form - liegt ihm fern, so dass sein Blick frei wird für "die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft"1, wie er sein 2006 im Psychosozial-Verlag veröffentlichtes Buch nennt.
Richter geht über die Beschäftigung mit dem Individuum hinaus und wendet sein psychoanalytisches Denken auf die Gesellschaft an, was außer ihm nur wenige Kollegen wagen, beispielweise auch Erich Fromm und Alexander Mitscherlich. Denn die Ergebnisse derartiger Analysen der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Konflikte sind brisant und höchst gefährlich.
So erkennt er Zeichen einer "fortschreitenden heimlichen Entzivilisierung" (S. 71), eine "unheilige Allianz zwischen Geist und Geld" (S. 81), eine "Selbstversklavung, eine Preisgabe der freien Willensbestimmung" (S. 243), einen ihm "unheimlichen Hörigkeitsdrang" (S. 244), eine "Autoritätssüchtigkeit" (S. 247), eine "sklavenhafte Willfährigkeit" (S. 248) und eine "kollektive Selbstentmündigung" (S. 248). Er beruft sich dabei auf die Analyse von Massenphänomenen durch Sigmund Freud und vor diesem le Bon. Diese Charakterisierungen betreffen insbesondere den modernen westlichen Menschen, besonders in seiner Form als Wissenschaftler, die er als "Gehorsamsautomaten" (S. 249) beschreibt. Die Leugnung der Mitverantwortung für den Gebrauch ihrer Produkte zum perfekten Töten und Verstümmeln von Menschen sei eine Form des Wahnsinns, an dem Wissenschaftler leiden. So bauen sie nicht nur Atombomben und Fernraketen, sondern auch "Sehmaschinen" (S. 72), so dass inzwischen das Töten überall auf der Erde möglich sei, ohne dass das Individuum an den Ort seines Vernichtungsaktes müsse. Die Steuerung der Massenmordmaschinen können vom Computer im heimatlichen Arbeitszimmer aus erfolgen. Der Ausführende ziehe sich in der Verleugnung seiner Verantwortung wie bereits in Hitlerdeutschland auf Befehl von oben zurück, der in der Regel mit unwahren Behauptungen begründet werde. "Man macht fragwürdige Dinge, nur damit andere einem nicht zuvorkommen. Man macht, was gemacht werden kann, nur um erster zu sein und ein Stück mehr Macht in Besitz nehmen zu können." (S. 74) So sei damals (im 2. Weltkrieg) in den Vereinigten Staaten die Herstellung der ersten Atombomben mit der tatsächlich falschen Vermutung begründet worden, deutsche Wissenschaftler seien bereits dabei, diese Bombe zu bauen. In jüngerer Zeit sei auf gleiche Art, nämlich mit der unwahren Behauptung, es gebe Beweise dafür, dass Saddam Hussein Atomwaffen entwickle, der Angriff auf Bagdad begründet worden. Derartige prophylaktische Vernichtungsakte seien Zeichen einer Unreife, einer Infantilität. Während das erwachsene Individuum versuche, Konflikte auf friedliche Weise zu lösen, erfolgt auf staatlicher Ebene brutale körperliche Bedrohung (Vernichtung mittels nuklearer Waffen) und entsprechender materieller Angriff, was im zwischenmenschlichen Bereich als Zeichen unreifen Umgangs mit aggressiven Regungen gelten würde – daher der Titel des Buches. Hintergrund seien abgewehrte Ängste und Minderwertigkeitsgefühl. "Supermannträume bei gleichzeitigen Entmännlichungsängsten, heimliche Selbstvergöttlichung als Überkompensation von Ohnmachtspanik." (S. 191) Richter vergleicht die Jetztzeit mit dem Mittelalter: "Wie damals Ketzerei und islamische Bedrohung zu Weltgefahren aufgebauscht wurden, um Verfolgung, Folter und Kreuzzüge zur Abreaktion zu inszenieren, so geschieht es heute mit dem islamistischen Terror. Dieser hielt sich in Grenzen, bis man ihn durch den Irakkrieg verhundertfacht hat. ... Zwei von der Hisbollah entführte Soldaten genügen Israel, um sich ... durch wochenlanges Bombardement ... zu rächen, ... um im Nachbarland Hunderte zu töten, Zigtausende zu vertreiben, Straßen, Brücken und Kraftwerke zu zerstören." (S. 219)
Bei seiner Analyse des Hintergrunds dieser Vorgehensweise geht Richter dann so weit, einen eigenen Trieb zu postulieren, offensichtlich reicht ihm der Freudsche Destruktionstrieb zur Erklärung nicht aus: "Man muss also dem Unterwerfungstrieb einen eigenen Platz in der Nähe des Sexualtriebs und des Destruktionstriebs einräumen." (S. 244)
Richter zeigt hier implizit den Grund dafür, warum er nicht in der Lage ist, die von ihm beobachteten Phänomene plausibel zu erklären: ihm fehlt ein adäquates Triebmodell. Das, obwohl er sich Freud gegenüber kritikfähig zeigt und bei ihm eine Gleichsetzung von Mann und Mensch als Zeichen einer Abwertung des Weiblichen bemängelt. Er bleibt dennoch innerhalb der Grenzen des Freudschen Triebmodells, das nur den Sexual- und einen Destruktionstrieb kennt und kann diesem Denkgefängnis nicht entkommen. An sich wäre es ein Leichtes, die aggressiven Akte von Staaten und Terrororganisationen mit Hilfe des Destruktionstriebs zu erklären, aber Organisationen, wie Nationen oder terroristische Vereinigungen, können nur menschenverachtend operieren, wenn es viele und intelligente Menschen gibt, die sich deren zerstörerischen Zielen unterwerfen und dabei ihre eigene Unmoral abwehren. Richter kann im Rahmen seiner klassischen psychoanalytischen Theorievorstellungen nur einen Verdrängungsmechanismus bzw. einen Abwehrvorgang vermuten, der eigene Ängste, hier Vernichtungsängste, nicht zur Bewusstwerdung zulässt. Leichter verständlich wird dieser psychische Vorgang, der selbst intelligente und psychisch gesunde Individuen dazu veranlasst, Mitmenschen anderer Nationalität, Ethnie, Religionszugehörigkeit oder anderer weltlicher Ideologie zu bedrohen oder massenhaft zu ermorden, wenn man das Triebmodell neuerer psychoanalytischer Schulen berücksichtigt, die die Existenz eines narzisstischen Befriedigungshaushalts anerkennen (Kohut, Kernberg und andere). Die narzisstische Befriedigung hat für die seelische Gesundheit des Individuums eine größere Bedeutung als die Befriedigung sexueller Triebwünsche oder aggressiver Regungen. Die hier gemeinten Befriedigungserlebnisse werden im Körper über die Ausschüttung von sogenannten "Glückshormonen" generiert. Das Streben nach Glück und Lust und die Vermeidung von Schmerz und Unlust wird ja nicht erst von neueren psychoanalytischen Schulen, und auch schon von Freud als ein Grundziel menschlichen Verhaltens angesehen, sondern auch von vielen philosophischen Schulen westlicher Prägung - beginnend bei Aristoteles-, und auch östlichen Philosophien, die jedoch teilweise andere Schlüsse ziehen. Während die westliche Kultur einhellig die Optimierung von Glück und Lust als reifen Umgang des Menschen zwischen Triebbedürfnissen und den Ansprüchen der Gesellschaft ansehen, von Freud als "Realitätsprinzip" dem "Lustprinzip" gegenüber gestellt, sieht der Buddhismus die Lösung im Loslassen aller Wünsche, der sogenannten "weltlichen Winde", die den Menschen treiben, also in einer inneren Unabhängigkeit von jeglicher Wunschbefriedigung, in einer wunschlosen Glückseligkeit, dem "Nirwana".
Anerkannt wird also bereits seit Menschengedenken, dass auch andere als sexuelle Wünsche, nämlich das Bedürfnis, Glücksgefühle zu erleben, für das Individuum eine bedeutende Rolle spielen. Die Philosophie lebender Systeme, die von mir um die Jahrtausendwende ins Leben gerufen wurde, betrachtet diese Wünsche nach narzisstischer Befriedigung als die eigentlichen individuellen Kräfte, die im Menschen wirken, neben den Kräften aller lebenden Systeme, die nach Selbsterhaltung und nach sexueller Lust streben. Glücksempfindungen unterschiedlicher Couleur erlebt das menschliche Individuum dann, wenn seine Handlungen von der Umwelt, also von seinen Mitmenschen oder der Gesellschaft positiv zurückgekoppelt werden - um es kybernetisch auszudrücken-, wenn das Individuum also bestätigt wird, gelobt wird, seine Handlungen anerkannt werden. Da jedes Individuum, wie ja auch von Freud und vielen psychotherapeutischen und philosophischen Richtungen anerkannt wird, nach Glück strebt, und dieses Glückserleben von der Reaktion seiner Mitmenschen auf sein tatsächliches Verhalten abhängt, erhält die Gesellschaft einen entscheidenden Einfluss auf das Denken und Handeln des Individuums. Der Philosoph Karl Marx beschreibt dies mit den Worten “Das Sein bestimmt das Bewusstsein”. Auf dem "Streben nach Glück" aufbauend, kann die Gesellschaft die Bedingungen modellieren, nach denen sie dem Individuum Anerkennung, Lob oder Bestätigung zukommen lässt und damit sein Selbstwertgefühl stärkt, oder dies verweigert – letzteres führt zu Gefühlen von Unglücklichsein, die möglichst vermieden werden. Hierbei spielt in der westlichen Gesellschaft – nebenbei bemerkt - die Zuwendung von Geld eine besondere Rolle. Geld wird in dieser Gesellschaft somit zum Auslöser von narzisstischen Befriedigungsgefühlen oder im Falle des Geldentzugs (Geldstrafen im Strafrecht, Verstrickung in Schulden, also negativem Geld) zum Mittel, das Individuum zu kränken, seelisch zu misshandeln, ihm narzisstische Befriedigung zu verwehren. Dem “Über-Ich” (Freud) steht also auch eine ursprünglich biolgische Energie zur Verfügung: die Sogwirkung des Glücksgefühls, von der die Entwicklung des Individuums in die Richtung gezogen wird, von der es die Bestätigung seiner Mitmenschen erhält - und umgekehrt die Entwicklungsrichtung meidet, die mit Bestrafung bedroht ist.
Wendet man diese Triebtheorie der Philosophie lebender Systeme an, um die "unerklärliche" Frage zu beantworten, warum Massen und selbst hochintelligente Menschen sich gesellschaftlichen Mechanismen unterwerfen, die letztlich zur Bedrohung für die Existenz der Menschheit (zum sogenannten "Geozid"2) oder sogar zum Untergang des Lebens auf der Erde überhaupt (dem "Biozid"2) führen, so ist die Antwort sehr einfach:
Das Streben nach Glück, nach narzisstischer Befriedigung, ist dem Individuum wichtiger als das Handeln entsprechend angeborener genetisch programmierter Handlungsweisen oder moralischer Vorstellungen. Ich habe an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass die Vermeidung des Brudermordes aufgrund angeborener Tötungshemmung dazu geführt haben könnte, dass der Urmensch beispielsweise Viehzucht und Ackerbau entwickelt hat, nämlich zur Vermeidung kriegerischer Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Horden um Nahrungsreserven. Die Einhaltung angeborener "moralischer" Vorstellungen bzw. Hemmungen erachte ich als einen wichtigen Ursprung der Entwicklung von Zivilisation3, womit ich mich von Freud abgrenze, der den Vatermord der Brüdergemeinde der Urhorde für den Ursprung zivilisatorischer Entwicklung hält.
Übrigens ist nach dieser Triebtheorie der Philosophie lebender Systeme der Sexualtrieb nicht eine individuelle Eigenschaft, sondern eine Eigenschaft der Art. Die Art, also auch die biologische Tierart "Mensch", hat einen Drang nach Ausbreitung, der sich in der Vermehrung der Individuen äußert, die dieser Art angehören. Das sexuelle Lustgefühl, das der Mensch und andere zweigeschlechtlich sich vermehrende Tiere bei sexueller Betätigung empfinden, ist damit die Belohnung der Art für ein Verhalten des Individuums, das der Art nützt – und nicht dem Individuum - dem nämlich als Folge dieser Handlungsweise, der Produktion von Nachkommen, Mühe erwächst, die in der Regel eher mit Unlust verbunden ist. Die Natur nutzt also auch in Zusammenhang mit sexuellem Verhalten das Generieren von Lustgefühlen dafür, den Verstand des Individuums und seine vorausschauenden Fähigkeiten abzuschalten. Für das momentane Lustempfinden nimmt das Individuum hier langfristige Mühen in Kauf. Ebenso ist es bei der Befriedigung des Wunsches nach narzisstischen Glücksgefühlen. Für die Anerkennung der großartigen wissenschaftlichen Leistung, für die damit verbundene finanzielle Absicherung und die nationale Ehre – also für diese grandiose narzisstische Befriedigung - nimmt der Wissenschaftler gern in Kauf, dass der Staat, nämlich das ihm übergeordnete lebende System, seine Erkenntnisse dazu benutzt, andere Völker zu bedrohen und Mitmenschen anderer Glaubensrichtungen, Staatszugehörigkeit oder Organisationszugehörigkeit zu vernichten.
Richters Buch bleibt trotz seiner feinfühliger Analyse der Unterwerfung von Massen unter zweifelhafte Staatsziele und des Fehlverhaltens von – besonders männlichen – Wissenschaftlern und Politikern bei der Aufklärung der Wurzeln dieses Unterwerfungsverhaltens in seiner psychoanalytisch begrenzten Theorie stecken. Die Lösung der Gegenwartsprobleme kann der Analyse Richters zufolge nicht vom männlichen Allmachtswahn erwartet werden, sondern von einer Stärkung des Einfühlungsvermögens und der Emotionalität, also von Fähigkeiten, die dem Weiblichen zugeordnet werden. An diesem Punkt treffen wir uns.
Rudi Zimmerman
1 Richter, Horst-Eberhard: Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft. Psychosozial-Verlag. Gießen. 2006. ISBN 978-3898806-570-2
2 Preuß, Fritz: Der Aufbau des Menschlichen. Die Mitschöpfung der Lebewesen an ihrer Gestaltung. Eine biologische Evolutionstheorie des Konkreten Vitalismus. Verlag Paul Parey. Hamburg und Berlin. 1987. ISBN3-489-63434-9
3 Zimmerman, Rudi: Zivilisation als Fortsetzung der Evolution. Die Entwicklung der Erdbevölkerung zum System Menschheit. Verlag Philosophie des dritten Jahrtausends. Berlin. 2008. ISBN 978-3-00-024701-9 |
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